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Sei Bereit
Bernhart Schwenk, Katalog 152 der DG im Frühjahr 2021 zur Ausstellung SEI BEREIT von Heike Kati Barath
Mit aufgerissenen Augen, aber stumpfem Blick starren die beiden Nackten aus den Zeichnungen heraus, frontal stehend, Statuen gleich. Wer mögen die Gestalten mit den langen, schnittlauchartigen Haaren sein? Ausgesetzte? Außerirdische? Archaischen Zeiten jedenfalls entstammen sie nicht, denn quasi synchron umklammern sie mit ihrer jeweiligen Rechten ein Mobiltelefon, vielleicht auch eine Fernbedienung, womit sie eindeutig als Menschen unserer Gegenwart zu identifizieren sind. Read more
„Adam und Eva 2.0“ nennt Heike Kati Barath ihre beiden Figuren im informellen Gespräch, offiziell tragen ihre Werke bewusst keinen Titel. Die Künstlerin öffnet damit spaltbreit die Tür für eine mögliche Deutung ihrer Zeichnungen. Denn trotz der technologischen Attribute, die auf Kommunikation und Kontrolle hinweisen, wirkt das Duo entwaffnend hilflos, geradezu anrührend, was die lapidaren, schwarzen Kohlestriche verstärken, die das Paar konturieren. Sind es also Wiedergänger der ersten Erdbewohner, erneut verstoßen aus einem paradiesischen Schlaraffenland?
„Adam und Eva 2.0“ treten erstmals in einer Ausstellung auf, in der Heike Kati Barath ihre Malerei sowie einen Animationsfilm wie eine Dramaturgin inszeniert und miteinander in Beziehung setzt. Zum ambientalen Charakter der Ausstellung trägt entscheidend auch eine Soundkomposition von Kilian Schwoon bei, die den Parcours durch alle Räume begleitet. Das multimediale Zusammenspiel macht nicht nur die Vielschichtigkeit von Baraths Schaffens deutlich, sondern belegt auch das synästhetische Malereiverständnis der Künstlerin und die Nähe zu dynamischen Narrationsformen wie das Theater oder den Film, die Handlungen nicht nur abbilden, sondern verkörpern. Auf eine mögliche Handlung verweist darüber hinaus der appellhafte Schriftzug, der die Besucher:innen bereits beim Betreten der Ausstellung in Stellung zu bringen versucht: „SEI BEREIT“ ist neben dem Eingang in großen Lettern zu lesen, die zunächst wie aus Brettern zusammengezimmert aussehen, sich dann jedoch als gemalte Elemente entpuppen.
Das Bereit-Sein fordert Aufmerksamkeit in einem imaginierten Davor und enthält eine Spannung, da es ein wie auch immer geartetes Danach suggeriert. Denn Grund und Ziel des Bereit-Seins bleiben uneindeutig: Ebenso wie ein Hilfs- Bereit-Sein lässt sich auch ein lauerndes Sich-Bereit-Halten assoziieren, das durchaus bedrohlich wirken kann. Dann nämlich, wenn die genaue Aktion nicht berechenbar ist und eine potenzielle Aggression, zumindest aber ein Auf-der-Hut-Sein andeutet wird. Doch wer eigentlich soll sich bereithalten oder auf etwas gefasst sein? Sind es die Akteur:innen in den Werken von Heike Kati Barath – oder sind es die Betrachtenden selbst, die hier angesprochen sind?
Wer die eindrücklichen, oft großformatigen Bilder von Heike Kati Barath einmal gesehen hat, vergisst sie so schnell nicht. Die Dargestellten, vor allem ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck und ihre kraftvolle, mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragene körperliche Präsenz, lassen niemanden unbeteiligt. Barath ist eine Meisterin darin, mit minimalen Mitteln eine starke emotionale Wirkung zu erzielen. Die flächigen Gesichter, winzigen Augen oder Strichmündchen lassen zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten zu. Nicht zuletzt deshalb erinnern sie an die Märchen- und Fantasiewelten, die wohl den meisten von uns seit frühester Kindheit vertraut sind. Mal wirken die auf den Bildern dargestellten Figuren erschrocken, mal skeptisch oder wütend, mal listig oder melancholisch in sich gekehrt. Durch die Überzeichnung lassen sich gleichzeitig aber auch bestimmte Menschentypen oder Charaktere assoziieren, bisweilen sogar konkrete Persönlichkeiten wiedererkennen.
Die vordergründig vereinfachenden Physiognomien, ihre Mimik und Gestik wirken nur anfangs hölzern oder eindimensional. Bei näherer Betrachtung lassen sich zarte Regungen beobachten, auch die vermeintliche Rauhheit der Malerei erweist sich als differenziert und kultiviert. Die hohe Anziehungskraft, die von dieser Malerei ausgeht, erklärt sich demnach nicht nur durch das unverwechselbare Kolorit und den großzügigen wie feinsinnigen Farbauftrag, sondern auch durch die gezeigten Motive, die eine raffinierte Kombination aus Abstraktion und präzisem Gespür für mögliche Projektionsfelder auszeichnet.
Vereinfachung und Überzeichnung charakterisieren nicht nur die Akteur:innen im Werk von Barath, sondern auch in anderen künstlerischen Medien, vor allem im Comic und in der Karikatur. Comics und Karikaturen folgen, wie es der Medienkulturwissenschaftler Stephan Packard formuliert, der „Logik einer Entführung“. Sie entwenden Stereotypen des gesellschaftlichen Diskurses und bearbeiten sie auf eine Weise, dass vereinfachende Klischees plötzlich kompliziert oder befremdlich erscheinen und das bislang Eindeutige oder Machtvolle fragwürdig wird. Karikaturen und Comics drücken somit etwas Anderes aus als das, was dieselben Inhalte in veränderten Kontexten besagen. Auf diese Weise brechen sie mit (allzu) simplen Zuordnungen und eröffnen selbstbewusst ein neues, als politisch zu bezeichnendes Feld.
Auch Heike Kati Barath arbeitet in ihrer Malerei mit bekannten, nur scheinbar harmlosen und vermeintlich eindeutigen Vokabeln, die im künstlerischen Kontext jedoch ihre Mainstream-Bedeutung verschieben und verzerrt werden. Ihre Kunst spielt mit einfachen Motiven ein Spiel mit dem Sichtbaren und dem Verborgenen, mit dem Sagbaren und mit dem, was oft verschwiegen wird. Die Bilder zeigen ihrem Publikum einerseits, wovon sie sprechen, sagen aber oft auch etwas, was sie nicht explizit zeigen. Ebenso wie unentscheidbar ist, ob Donald Duck eine Ente ist oder ein Mensch, der nur als Ente gezeichnet wurde, lässt sich bei Baraths blonden Bikini-Mädchen nicht entscheiden, ob hier unschuldige, gefährdete Wesen gezeigt werden oder abgefeimte Mitglieder einer unbarmherzigen Girl Gang. Humorvolle Motive kippen ins Groteske oder Obsessive, Pathosformeln ins Lächerliche.
Nicht zuletzt deshalb kombiniert Barath ihre oft auf Holzkonstruktionen präsentierten farbigen Motive auf deren Rückseiten mit ganz anderen, bewusst farblosen, abstrakten Arbeiten, auf denen konzentrische Kreise, Gitterstrukturen oder Ornamente auftauchen, wie etwa das aus aufgetürmten, männlichen Geschlechtsteilen, oder deren Oberfläche perforiert ist. Alle vorschnellen Bewertungen, alle rasch gefassten Urteile fliegen einem in solchen Kombinationen um die Ohren wie die Bretter vor dem heiteren, strahlend blauem Himmel, ein besonders eindrückliches Bildmotiv von Heike Kati Barath.
Die Zeiten, in denen ein Buch, eine Philosophie oder eine Person der Zeitgeschichte als ungebrochen gut oder eindeutig schlecht wahrgenommen werden konnten, sind lange vorbei. Selbst im Hollywood-Film sind Heldinnen und Helden ambivalent geworden, widersprüchlicher und komplexer. Was Maske ist und was wahre Person, wird möglicherweise gar nicht mehr so scharf getrennt, und wir wissen heute auch, dass kaum etwas besser auf das Reale verweist als das Inszenierte. Ob dadurch auch Kategorien selbst, wie beispielsweise das Gute und das Böse, ins Wanken geraten, ist eher nicht zu vermuten. Lediglich die Eindeutigkeit und die schnelle Bewertbarkeit alles Sichtbaren verschwimmen. Die dadurch entstehende Offenheit, das sei noch einmal wiederholt, ist ein hochpolitischer Akt, den seit Jahrhunderten kaum etwas Anderes besser anzuregen und zu lehren geeignet ist als – Kunst.
Der Himmel dahinter
Die Berliner Malerin Heike Kati Barath
Thomas Hirsch, Boesner Kunst + Material März 2020
Das Wandbild war der Hit. In ihrer Ausstellung in der Von der Heydt-Kunsthalle Wuppertal 2014 hatte Heike Kati Barath im fünften Raum eine Installation mit Malerei platziert. An der vom Eingang abgewandten Ecke zeigte sie eine Gruppe Tierwesen, die vor einem knappen schwarzen Hintergrund in kantige Zacken eingefasst war. Aufgerichtet, zusammengerückt und mit schwarzen Augen, die aufmerksam auf den Betrachter gerichtet waren, schienen die Wesen geradezu den Gruppenbildnissen der alten niederländischen Meister entsprungen. Read more
Trotz der Behaarung mit einem dichten Fell und langen Barthaaren besaß jedes seine Individualität. Der Farbauftrag war leicht und licht, erst recht weil zwischen dem gestrichelten Fell die weiße Wand und die rosige Haut hervor strahlten. Heike Kati Barath spricht von „Yetis“, also den mysteriösen intelligenten, aufrecht gehenden Fabelwesen des Himalaya-Gebirges. Wie ein Spiegelbild des Menschen trat besonders das Leittier im Zentrum der Gruppe hervor. Im rechten Winkel der Ecke war das Augenpaar zusammengerückt, der Blick wirkte dadurch erst recht intensiv. Der Yeti beugte sich, mit den Unterarmen auf dem Boden aufliegend und flankiert von dem schirmenden Arm eines Tieres dahinter, nach vorne. Durch die applizierten Arme aus Styrodor verwandelte sich das flächige Bild in eine Plastik. Die Körperlichkeit und damit der Realismus wurden durch die Fäden aus schwarzem Acrylfugendichter unterstrichen. Heike Kati Barath betonte den Ort, indem sie schwarze Lackfarbe über die Fußbodenleiste sprühte. Natürlich konnte es gar nicht anders sein, als dass der Yeti gerade aus der Ecke heraus agierte, also die Diagonale einschlug und dabei den gesamten Boden aktivierte. Die Yetis wurden Teil der Wirklichkeit der Ausstellungsbesucher.
Es gibt hinreichend Beispiele für das Dialogische in den – stets unbetitelten – Werken von Heike Kati Barath. Es lag sogar bei einem der allerersten Auftritte ihrer Yetis vor: Im Mannheimer Kunstverein 2001 hatte sie zwei bis zur Deckenhöhe reichende Yetis auf den gegenüberliegenden Seiten der Galerie, getrennt durch den Luftraum, gemalt. Hier schauten sich die Yetis nicht nur an, sondern blickten zugleich in das Erdgeschoss des Kubus. Die Yetis beobachteten das Publikum bevor dieses die Figuren erspähte. In Gänze zu sehen waren die Yetis erst von Oben, auf Augenhöhe: eine perspektivische Idee, die Heike Kati Barath noch 2017 bei ihrer Ausstellung im Obergeschoss des Osthaus Museum Hagen eingesetzt hat. „Mir ist es wichtig, dass das Anschauen der Bilder zu einer sinnlichen Erfahrung wird. Dass man konfrontiert wird und sich und seinen Körper zum Bild positionieren muss“, hat Heike Kati Barath in einem Interview für den Hagener Katalog und noch in Bezug zu ihren riesigen, hochformatigen, einzeln an Gestellen befestigten Gemälden gesagt.
Das leibliche Bewusstsein, das entsteht, indem – real oder auf der Fläche – die Figur mit Händen oder Füßen nach vorne ausgreift; die frappierende Direktheit und Unmittelbarkeit; der treuherzige Blick mit einer Spur von kindlicher Unschuld; das hohe Potential an Identifikation mit dem Betrachter und die Präsenz der Figur, die sich aus all dem ergibt – all das sind ebenso Kennzeichen der Gemälde, mit denen Heike Kati Barath seit den späten 1990er Jahren bekannt wurde und der zeitgenössischen figürlichen Malerei einen ganz eigenen Ton hinzugefügt hat. Ihre Gemälde zeigen Mädchen und Jungen, also Heranwachsende, aufrecht stehend im Bildformat, welches ihre Konstitution aufgreift und sie aus jedem Kontext isoliert. Von Enge aber keine Spur, schließlich scheinen im Hintergrund die Weite des blauen Wolkenhimmels oder der schwarzen Nacht auf. Immer dominiert die entwaffnende Leichtigkeit der Farbtöne, der Mimik und der Accessoires der Figuren in selbstverständlicher Pose. Barath versteht es dabei, die ganze Klaviatur an Emotionen und Gefühlen zum Ausdruck zu bringen und entsprechende Reaktionen beim Betrachter auszulösen.
Atelierbesuch in Berlin-Mitte, Nähe Alexanderplatz, dort wo Kati seit rund einem Jahrzehnt lebt. Vor dem Haus flutet der Verkehr in mehreren Spuren, in der Mitte die Straßenbahn im Minutentakt. Eine ganz normale Hauptverkehrsstraße, immerhin Schlagader zwischen dem Osten und dem Westen der Metropole, Häuserzeilen mit schmucklosen Altbauten, die fünf, sechs Stockwerke hoch reichen. Auf der Straße dann ungute Beobachtungen: Die alteingesessene Apotheke unten im Haus hat dicht gemacht, ein grassierendes Phänomenen, offensichtlich. Jedenfalls ist hier seit einigen Wochen eine Verkaufsbörse für Apothekeninventar eingerichtet, permanent werden Regale, Schränke angeliefert und hin und her geschleppt. An der Ecke der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Bürogebäude für Start-ups aus Glasfassaden binnen kurzer Zeit hochgezogen – nicht dass es schlecht aussähe, aber es leitet schon eine Verdrängung der von hier stammenden Bevölkerung ein. Die Beobachtungen von Heike Kati Barath lassen sich fortsetzen und irgendwie fließen sie in ihre Bilder scheinbarer Idyllen ein, die vor allem in ihrem frühen Werk unbeschwerte Kindheit, frische Luft und die Großzügigkeit der See ansprachen. Die immer eine Art Gegenwelt darstellen und doch sehr präzise Befindlichkeiten und Gefährdungen unserer Zivilisation und des Sozialgefüges andeuten … Ein Summen öffnet die hohe Haustür, eine lange, breite Treppe führt steil zum Hochparterre, oben am Absatz lehnt Kati am Türpfosten, lächelt freundlich. Im kleinen Flur führt eine Tür zu einem Bilderlager, dann öffnet sich nach beiden Seiten hin das Atelier mit der großen Schauwand. Wichtig für ihre Formate ist die Deckenhöhe, die leicht über 3 m liegt. Mehrere unfertige Gemälde lehnen, aufgebockt, an der Wand, sie entstehen parallel. Viele der Bildideen sind auf mehreren Tafeln umgesetzt, die eigene Werkgruppen ergeben und Katis selbstkritischen vergleichenden Blick auf die Zwischenstände der Malerei ermöglichen. Die unterschiedlichen Ideen sind zuvor mit Bleistift in Skizzenbüchern notiert. Im Hinblick auf die konkrete Umsetzung entstehen genauere Zeichnungen, von denen sich Barath beim Malprozess wieder entfernt. Dieser findet teilweise plan auf Gestellen statt, wobei sie beim Malen um das Bild läuft und es von allen Seiten prüft. Eimer und Farbtuben, Pinsel und Spritzpistolen stehen auf dem Boden: In ihnen deutet sich an, wie aufwändig, technisch variabel und experimentell sie vorgeht. Sie arbeitet mit Acryl- und Ölfarbe und Lacken und Sprayfarben und trägt für die Haarsträhnen Bahnen aus Acrylfugendichter auf, setzt aber auch Glimmer auf und appliziert plastische Elemente, etwa Kunststoffaugen. Selbst die Folien, die sie neuerdings für die Darstellung der Augen verwendet, sind genau bedacht. Abgesehen von der „Haltbarkeit“ auf der Leinwand geht es um ihre Ausdrucksstärke und die schlüssige Verbindung mit der Malerei, ebenso wie ihre Wirkung auf den Betrachter.
Überhaupt, so lapidar und kalkuliert schablonenartig die Bilder von Heike Kati Barath auftreten, so „einfach“ sie angelegt sind – wie ja auch ihre Skulpturen aus „poveren“ Materialien, etwa Drähten, Gips, Bauschaum und vorhandenen Kleidungsstücke bestehen – so überraschend, ja, raffiniert sind sie doch im Detail. Ihre Besonderheit beginnt mit der leicht überlebensgroßen Höhe, bei der mit einem Schlag nichts mehr „niedlich“ ist. Dann sind da die Motive zum Fremdschämen, die Rötungen der nur vermeintlich makellosen Haut, die Schamhaare, die aus den Badehosen kriechen und sich unter den Achseln befinden – allesamt Hinweise auf die Pubertät und damit eine komplizierte Gefühlslage der Identifikationsfindung: auf ein Zurechtfinden in der Gesellschaft, hier noch an deren Peripherie, am Strand oder im Verbund mit der Clique.
Und dann gibt es noch die zauberhaften malerischen Finessen, mit denen die Professorin für Malerei an der Hochschule für Künste Bremen eindrucksvoll belegt, was vorzügliche Malerei vermag. Sie verbindet in ihren Bildern die besten Eigenschaften des Realismus als Mittel der Deutlichkeit und kollektiven Kommunikation mit dem Potential der Farbfeldmalerei und der Monochromie. Da gibt es, in einem Gemälde von 2016, das sitzende Mädchen, das mit den Füßen nach vorne drückt und sich dazu auf die rechte Hand aufstützt: Zu sehen ist diese Hautpartie abstrahiert als gleichschenkliges Dreieck, welches mit dem Verlauf des Hemdes auf der linken Körperhälfte korrespondiert, und mit einem Mal wird deutlich, wie exakt die Figur hier aufgebaut ist und auf Geometrien basiert.
Ebenfalls in Hagen ausgestellt war der schwarze Zyklop mit dem riesigen, unförmigen Kopf. In rotierenden, noch die Bewegung der einzelnen Fasern abbildenden Pinselschwüngen hebt sich das Haupt eben doch von seinem Umraum ab, welcher sich als Landschaft erweist; die fließende Farbe im linken Bereich zitiert chinesische Tuschmalerei. Rechts ist der Horizont entrückt, aber in nebeliges Licht gehüllt. Aus all dem aber strahlt das Weiß des einen Auges hervor und verdeutlicht, dass die Figur zu uns gewandt ist … Und bei den beiden hellen, „fleisch“-farbenen Häuptern wirkt dasjenige mit den geschlossenen Augen wie aus Stein gemeißelt. Zugleich wird die Statuarität aufgehoben, und erst allmählich realisieren wir, dass dies vor allem an der Unterbrechung der Kontur am Scheitel liegt. Überhaupt: Was sind das für atemberaubende Gemälde, die nichts als einen Kopf vor einem blauen Himmel auf 150 x 200 cm zeigen? Wie liegt der Riese da und lässt uns an seinem wachen Liegen bzw. dann an seinem Schlafen teilhaben? Sind das nicht ausgesprochene intime Momente? Wir denken vielleicht an einen gestrandeten Wal. Und bei Nacht wird eben auch die zuvor rötliche Haut schwarz. Was ist der Mensch als Gestalt, woraus besteht er, wie äußern sich das Denken und Empfinden inmitten der Körperlichkeit ? Auch das sind Fragen, denen Heike Kati Barath in ihrer Malerei beharrlich nachgeht.
Figuren zeigt von Anfang an in ihrem Werk. Bereits Mitte der 1990er Jahre lag die eingängige Malerei mit deutlichen Konturen und großen Flächen vor. Zu Beginn waren die Formate moderat. Auch da stellte sich ein Gefühl von Monumentalität ein, indem die Figuren als Ausschnitt im Bildformat verspannt waren und dieses zu sprengen schienen. Inkarnat und Kleidung spielten zusammen, wirkten hell und sympathisch, der Hintergrund blieb abstrahiert, von lediglich einem Farbton bestimmt: eben als hellblauer, von Wölkchen durchzogener Himmel. Vielleicht kommt hier zum Tragen, dass Heike Kati Barath an der Kunstakademie in Münster vor allem bei Ulrich Erben, einem herausragenden Farbfeldmaler studiert hat, der seine so fein nuancierten Abstraktionen von Gesehenem – meist des landschaftlichen Raums und elementarer Architektur – ableitet. Baraths Referenz aber ist die menschliche Gestalt, und ihre Malerei formuliert diese in Flächen, welche die Tendenz zur Monochromie tragen. Mitunter reizt sie dies bis ins Ungegenständliche aus. So zeigt eine Werkgruppe um das Jahr 2000 lediglich rosafarben gestrichene, mit malerischen Verdunklungen versehene Flächen: Schilderungen der Mundpartie mit den Lippen oder der Nase. Und es gibt verteilt über die Jahre Bildstücke, die wie im Blick aus dem Flugzeug lediglich Hellblau zeigen, vermischt mit Ballungen weißer Farbe. Überhaupt, auch der Hintergrund um die Figuren ist weniger Farbmalerei als Ereignisraum. In seiner Aktivierung befragt er gerade bei den frühen Gemälden das Verhältnis von Figur und Grund und führt zum Umschlag von Positiv und Negativ mittels Vereinfachungen der Binnenverläufe. Da ist das grüne Handtuch, das als Rechteck an der ebenso grünen Wäscheleine hängt und so den Himmel dahinter in den Vordergrund rücken lässt (1995). Oder von unten greifen nackte Arme mit gespreizten Fingern in das Bildformat hinein, vor einem saftigen Grün. Es gibt wohl kaum eine/n Künstler*in, der/die Handinnenflächen derart anmutig und leiblich und dabei doch transzendiert gemalt hat (1997/98). Schiebt sich hier ein Kind neckisch vor den Sucher und winkt (wie die Yetis) oder versinkt eine Figur im Moor und die Arme sind als Hilferuf und letzte Zeugnisse seiner Existenz gereckt? Zur Intensität des Ausschnitts trägt bei, dass die linke Hand vom rechten Bildrand beschnitten ist – eine besondere Qualität der Malerei von Heike Kati Barath ist überhaupt, wie die Figuren oder ihre Körperteile im Format stehen, aus der Mittelachse gerückt sind und über die Ränder in der Balance gehalten werden.
Die lediglich zeichenhafte Anwesenheit des Menschen liegt auch in einer Wandzeichnung vor, die Heike Kati Barath 1997 in der Kunstakademie Münster mit Graphit angefertigt hat: Sie zeigt drei breite Zöpfe, die, gewissenhaft geflochten, über mehrere Meter von der Decke die weiße Wand vertikal herab reichen und von Schleifen zusammengefasst sind, welche an die scharf kontuierten Schäfte von Beilen erinnern. Natürlich denken wir sofort an das Märchen von Rapunzel, das liebevoll und harmlos beginnt und so bitterböse verläuft. Interessant ist daneben Baraths Hinwendung durch ihr gesamtes Werk hindurch zu den Haaren in ihrer nur partiellen Zugehörigkeit zum Menschen. Frisuren sind Ausdruck von Moden und Haltungen, sie verstärken oder unterlaufen schon die Rollen von Mann und Frau. Tatsächlich gibt es bei Barath auch „Medusenhäupter“ und oft sind die Haare so mit dem Acrylfugendichter aufgetragen, dass dazwischen die Haut durchschaut … Die Geschichte mit den Zöpfen findet sozusagen eine Fortsetzung: 2007, also zwei Jahrzehnte später, hat sie ein Bild gemalt, das drei Beine in weißen Kniestrümpfen und braunen Schuhen im Gras stehend, zeigt, vor sich einen amorphen fleischfarbenen Haufen. Die Strümpfe und noch die Beine zeigen Spritzer im gleichen Ton, der auch an Blut erinnert. Beunruhigend ist schon, dass die Paarigkeit der Beine aufgehoben scheint, aber dann entdeckt man, halb verdeckt durch die Halme, am rechten Bildrand das Braun eines weiteren Schuhs und stellt fest, dass die beiden linken Beine einen Tick näher zusammengerückt sind, also lediglich der Fokus des Bildausschnitts verschoben ist. Aber macht das Plausible – die Realität – die Situation nicht noch bedrohlicher? Die Psychologie ist immer eine Strategie der Malerei von Heike Kati Barath.
Ja, viele der Bilder von Heike Kati Barath sind bitterböse und machen Angst. Aus dem oben geschilderten Kontext und ebenfalls von 2007 stammt ein 3,50 m hohes Bild mit einem Fleischturm, der vom unteren Bildrand ausgehend steil in den hellblauen Himmel ragt. Und es gibt in den letzten Jahren auch Türme aus erschlafften Penissen, die sich im Aufeinanderliegen in die Höhe hangeln und noch an glitschige tote Fische denken lassen. War es nicht die österreichische Performancegruppe „gelatin“ (später: „gelitin“), die einen Turm aus ihren eingeölten nackten Körpern bildete? Dem Barocken der Aktion setzt Heike Kati Barath das nüchterne Understatement der Konturzeichnung entgegen, um die Idee von Körperlichkeit – und Aspekte der Geschlechterrolle und des Machtgefüges – anzusprechen. Das Thema des Körpers, von Fleisch mit und ohne Haut (die sie malerisch so delikat umsetzt) führt sie dann noch zur Darstellung äußerster Brutalität, etwa indem Finger auf einer Holzplatte festgenagelt sind oder bei einer Skulptur ein Beil im Kopf steckt. Doppeldeutig (und damit wie ein Äquivalent zum Bild mit den hochgereckten Händen) ist die Darstellung eines Hauptes mit den Händen, die die Figur am Ende einer Planke (eines Tisches?) zu halten scheinen, auf welcher sich von vorne der Schatten einer weiteren Gestalt abzeichnet: Ist dies nur ein spielerisches Versteck-Spielen oder steht der tödliche Sturz in die Tiefe bevor? Immer haben diese Darstellungen eine elementare Wucht, die kein Dazwischen duldet, nur das eine oder das andere ist. Dazu findet Heike Kati Barath schon früh zum Motiv des Hasenkopfes im schwarzen Fell mit den tiefen roten Augen – umgesetzt riesig als Wandmalerei oder auch als plastischer Schädel an einer Kette – der an den Topos des Bösen Clowns denken lässt. Und das Komplementäre zum Wolkenhimmel ist eben das Schwarz, das in seiner ausschließlichen, kreiselnden Dichte an ein Schwarzes Loch denken lässt und zum Ausdruck für das abgrundtief Böse wird: Jedenfalls, die Bilder und Skulpturen von Heike Kati Barath lassen niemanden unberührt, sie lösen Empathie aus. So schnell vergisst man sie nicht.
Erst recht mit dem Wissen um derartige Werke sind Baraths „typische“ großformatige Bildnisse heranwachsender Menschen eben auch ganz anders zu sehen. Sie verweisen auf die Komplexität des Menschen, der in sich archaische Triebkräfte und anerzogene Vernunft vereint. Heike Kati Barath arbeitet gerade mit klischeehaften Vorstellungen, um sie zu entlarven, aber so, dass ein Rest an Verunsicherung bleibt. So handelt es sich nicht um Stereotype, sondern um Individualporträts. Auch als erinnernde Einstellungen vom Strandurlaub tragen sie Motive der Emanzipation von Rollenzuweisungen und des Bruches mit Konventionen in sich. Und: Ob sich schon andeutet, was aus diesen jungen Menschen mal wird? Plötzlich kommen Emotionen ins Spiel, handeln diese Bilder unterschwellig von Sexualität, körperlicher Bewusstwerdung. Dem allzu Lieben werden Drohgebärden und Brüche der Ordnung gegenübergesetzt. Codes, Verhaltensregeln und Hierarchien klingen an, insbesondere bei den Jungs in ihren Hoodies vor einem dunklen Grund. Mimik und Gestik sind gebändigt, pointiert und dadurch um so ausdrucksstärker. Dazu zählen geballte Fäuste und die Neigung des Körpers, auch schon des Kopfes nach vorne. Die Stirn wird riesig, die Augäpfel sind nach oben gerückt und fixieren das betrachtende Gegenüber. Auch das gilt für die Malerei von Heike Kati Barath: Sie sind Meisterwerke des Lakonismus. Daraus entwickeln sie alles Verschwenderische großer Malflächen und das Vielschichtige ihrer Aussage. Und so scheint es, dass der Junge, der vor einem überladenen Teller Spagetti sitzt, mit dem nach vorne gerichteten Schädel regelrecht durch eine imaginäre Wand möchte und dazu die „gedachte“ Bildfläche zum Betrachter hin durchstößt. Immer wieder verschaffen sich die Figuren dieser Bilder Raum, sie drängen nach draußen. Die Schuhspitzen liegen auf dem unteren Bildrand auf und sind nach vorne ausgerichtet. Genau so wichtig sind die Abwehrgesten im Zusammenspiel mit dem Bildraum, der sich hinter ihnen eröffnet und noch 3-D-Effekte zitiert.
Ein Motiv, das Heike Kati Barath in der Zuständlichkeit zwischen Fläche und Raum belässt, ist das Brett aus Holz, gemalt als trompe-l’oeil mit Ölfarbe auf Leinwand. Auch es lag schon in den 1990er Jahren vor. Weiterhin sind Gemälde entstanden, die als Motive Holzstege oder Holztürme zeigen. Als langgestreckte Simulation von Holz aber hat es gerade in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen. Eigentlich war das Holz auch der „Star“ der Einzelausstellung von Heike Kati Barath im Osthaus Museum Hagen 2017, anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Karl-Ernst-Osthaus-Preis. Ihre Ausstellung fand im etwas winkligen Neubau statt und begann dort mit einem Schacht, den Barath mit ihren nun bündig aneinander anschließenden, auch die Decke einbeziehenden „Brettern“ gebaut hatte. Aber alles war gemalt. Es war eine Malinstallation! Und indem Heike Kati Barath für diese immense Arbeit eine Assistentin hinzugezogen hatte, ließen sich im Auftrag der Farbe, die die Holzmaserung simulierte und zugleich als gegenstandsfreie Farbfeldmalerei zu verstehen war, verschiedene Handschriften feststellen – wenn man im schummrigen Halbdunkel des Tunnels so genau schauen wollte …
Eines noch: Im Atelier klappt Heike Kati Barath eine Zeichenmappe auf und legt die oberen Lagen mit Transparentpapier zur Seite. Sie ist gerade, Mitte November, aus Toronto von einem Studienaufenthalt zurück und hat dort großformatige Zeichnungen lediglich mit breiter schwarzer Kohle angefertigt, erstmals nach vielen Jahren wieder. Auch mit diesem Medium geht es um Figur, Körperlichkeit, individuelle und kollektive Geschichten, die von eigenen Erfahrungen und Emotionen gesättigt sind, die Humor und Ernst, Angst und Freude zusammenführen. Aber nun passiert etwas ganz Erstaunliches: Allein das Bröselige der Kohle mit dem strahlenden Blattweiß im Hintergrund schafft einen tiefen Raum, in dem alles eine ausgesprochene Plastizität annimmt. Auch diese Blätter wirken monumental, aber mit dem „Schwebenden“ der Kohle sind die Darstellungen plötzlich immateriell, als wären sie noch ganz im Gedächtnis und als Bild reine Vorstellung. So präzise Barath in ihrem Werk gesellschaftliche Phänomene und unser heutiges Leben konkretisiert, so sehr transzendiert sie sie auch ins Überzeitliche, auf ihre geistige Essenz hin: als Bilder reiner Menschlichkeit.
Am Linden-Center
Birgit Szepanski, Berlin 2014
Die Tram M4 ist voll. Kati und ich finden nach ein paar Haltestellen noch zwei Sitzplätze am Fenster. Greifswalder Straße, Indira-Gandhi-Straße, Buschallee, Hansastraße, Falkenberger Chaussee – von Mitte nach Hohenschönhausen, das dauert nur etwas mehr als eine halbe Stunde. Und einiges ändert sich bei dem Blick aus dem Fenster der Tram: bürgerliche Wohnhäuser, eine Bruno-Taut-Siedlung, ein Autocenter, Fitnessstudios, Kfz-Werkstätten und Plattenbauten. Haltestelle Prerower Platz, da müssen wir raus. Die Plattenbauten sind mit braunen und gelben Fassadenplatten verkleidet. Auch hier soll es schön aussehen, hell und nicht so, als sei man in einem grauen Vorstadtgebiet. Hohenschönhausen: das klingt zunächst wie der Name einer deutschen Kleinstadt im Grünen und, umso subtiler ist das Wissen um die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und die sozialen Problematiken im Bezirk Lichtenberg. Read more
Am Prerower Platz steht das Einkaufszentrum Linden-Center. Das einzige neue Gebäude inmitten der Plattenhaussiedlung: ein schlichter Betonbau, der mit farbigen Schriftzügen versehen ist: Grün, rot, gelb, orange, weinrot, türkis, schwarz / Galeria Kaufhof, Mediamarkt, Deutsche Post, Burger King, Ditsch, Douglas, Cinemaxx / Ich freu‘ mich drauf!, Ich bin doch nicht blöd!, Einfach. Immer. Überall, Bigger. Better. Burger King, Your partner in beauty, Mehr als Kino. Farbe, Schriftzug und Slogan: ein Groove.
Kati und ich stehen am Eingang des Linden-Centers und schauen auf die Fassade: „Was wollen sie mehr?“ lesen wir dort und neben diesem Schriftzug, auf einem Plakat, lächelt uns ein junges Paar an. Daneben wieder ein Slogan: „Weil das unser Center ist“. Jetzt lächelt Kati und ich lächle dann auch und wir gehen weiter, rechts am Linden-Center entlang, biegen in die Falkenberger Chaussee ein, weichen ein paar eiligen Passanten, die zur Tramhaltestelle wollen, aus und folgen einer Gruppe Jugendlichen mit Kapuzenpullis, zwei Frauen mit Kinderwagen, einem Mann mit Rucksack und einem Mädchen an der Hand, die alle den gleichen Weg wie wir einschlagen. Falkenberger Chaussee Ecke Wustrower Straße. Dort gibt es einen Parkplatz. Mittwochs ist hier Markt und an diesem Wochenende gastiert ein Jahrmarkt mit Kinderkarussell und Riesenrad. Der Duft von Karamell und heißem Fett zieht durch den blauen Oktoberhimmel. Und das Linden-Center hat heute, am Sonntag, von 13–18 Uhr geöffnet, ist auf einem Banner am Parkhaus zu lesen. „All inklusive“, „buy one and get two“, Slogans summen in meinem Kopf. Kati und ich gehen weiter und wollen Blicke von Passanten erhaschen, wenn diese Katis Bilder-Installation auf dem Grünstreifen vor dem Parkplatz entdecken. Junge Frauen mit Kindern, die rosa Zuckerwatte in der Hand halten, kommen uns entgegen, auch ein paar Männer mit Schirmmützen und dann läuft ein brauner, großer Hund über den Grünstreifen, schnuppert an den Blumenrabatten mit den leuchtend gelben Studentenblumen und rennt mit gesenktem Kopf wieder zu seinem Herrchen zurück. Keine Hasenfährte aufgespürt, scheint er damit ausdrücken zu wollen.
„Ist Kunst in Hohenschönhausen zu zeigen vielleicht schwierig?“, fragt Kati leise nach einer Weile. Und dann wird klar, die Frage ist berechtigt, weil, „wer von den Passanten bemerkt Katis vier Bilder, die sie an einen zehn Meter hohen Baugerüstturm gehängt hat? Kann es sein, dass die drei Meter mal zwei Meter großen Bilder nur den Menschen auffallen, die aus ihren Fenstern blicken und dann, von einem Tag auf den anderen, von einem blondhaarigen Mädchen im roten Träger-T-Shirt, einem schwarzhaarigen, lächelnden Jungen im rotem Pullover, einem androgynen Wesen im grasgrünen Kapuzenanzug oder einem rotnasigen, weißhaarigen Hasenkopf angeblickt werden? Gehören diese Bilder zum Linden-Center? Haben sie etwas mit den Himmelsrichtungen oder Jahreszeiten zu tun? Was machen diese Gesichter dort überhaupt?“, mag sich jemand fragen, der die Bilder entdeckt hat. Und: „Warum hat man das Gefühl, von ihnen angeschaut und beobachtet zu werden, obwohl ihre Augen ganz klein und eigentlich nur Punkte sind?“ Auf einmal sind das Mädchen, der Junge, das Kapuzenwesen und der Hase da und wirken auch hier, in Hohenschönhausen, so, als ob sie immer schon da gewesen wären. Vor dem Hintergrund der Plattenbauten und dem Funktionsbau des Linden-Centers nehmen sie ihren Raum ein. Die Figuren hat Kati im Halbportrait gemalt und vor den rechteckigen Fensterfronten der Plattenbauten wirkt es so, als ob die Figuren aus ihrem Bildformat in die Plattenhaus-Welt hineinschauen. Sie haben ein Gesicht, obwohl sie so wenig Gesicht zeigen. Sie könnten, so ihr stiller Slogan, auch wieder und quasi über Nacht verschwinden. Ist das ihr Geheimnis oder ihre Drohung? Eine Bewegung von einem Kleinkind in einem Buggy weckt Katis und meine Aufmerksamkeit. Das kleine Mädchen zeigt wortlos und unbemerkt von der jungen Frau, die es vorwärts schiebt, mit einer Hand nach oben. Der gemalte blaue Himmel, in den Kati ihre Figuren setzt, geht an diesem sonnigen Tag in einen blauen Herbsthimmel über. Das Kind sieht es vielleicht genau so: ein weißer Hasenkopf im Himmel. „Gibt es noch ein anderes Draußen? Wer ist eigentlich drinnen und wer draußen?“, frage ich mich jetzt.
„Wer bist Du?“, fragen Kinder andere Kinder und die Antwort ist meist nur die Nennung des Vornamens; was soviel heißt wie: ich bin jemand. Alle möglichen Fähigkeiten, Vorlieben und Eigenschaften scheinen dann in dem Namen und in der Art und Weise, wie er ausgesprochen wird, zu liegen. Für ein Kind genügt es manchmal, ein Ding nur mit seiner Objektbezeichnung zu benennen. Ein Stofftierhase ist so „der Hase“ und ist zugleich eine Hasenwelt. Diese umfasst vieles: Gefahren und Glück, Freunde und Feinde, Lust und Gemeinheiten, Neugier und Rückzug und ein Sich-in-seiner-Haut-wohl-und-unwohl-Fühlen und eben auch die Schwankungen, die mit diesen Gefühlen verbunden sind. Meist besteht nur ein schmaler Grat zwischen Gefühlen. Aus einer solchen Welt scheinen die vier Figuren, die Kati gemalt hat, fröhlich, grimmig, verschwiegen und selbstbewusst auf die Falkenberger Chaussee, die Plattenbauten und das Linden-Center zu schauen. Die Figuren sind ein wenig älter als die vorbei gehenden und geschobenen Kinder, die früher als die Erwachsenen die Veränderung im Straßenbild entdecken.
Kindsein, Teenagersein, tierähnliches und androgynes Wesen: Katis Figuren bewegen sich in einem Dazwischen. Als Gegenüber sind sie so faszinierend, weil sie ambivalente Eindrücke vermitteln: sie schweigen und verschweigen etwas, sie scheinen etwas über uns zu wissen, aber sie verraten nichts, sie schweben in einer himmelblauen Welt, die überall sein könnte und im nirgendwo liegt. In ihrer übergroßen Gesichtsmasse bleibt das Gesicht jeweils nur angedeutet: kleine Augen, die in die Welt blinzeln oder lugen; ein schmaler Mund oder ein Schlund, in den Worte hineinzufallen scheinen; Haare, die im Gesicht kleben oder sanft hinwegwehen; Ohren, die phänomenal abstehen oder klein und zart erscheinen. Vor den Plattenbauten wirkt der Baugerüstturm mit diesen vier Figuren wie eine autonome Siedlung und eine Behauptung für etwas, das anders ist als die Hochglanzwelt der H&M-Plakate, die wir auf der Tramfahrt zurück nach Mitte auch sehen. Das Mädchen, der Junge, das Kapuzenwesen und der Hase scheinen wirklicher zu sein als die aus Pixeln bestehenden Gesichter der Models auf den Werbeplakaten, sie scheinen etwas mit uns zu tun zu haben und zu machen.
Der Text erschien anlässlich des Projektes „Bilder für Neu-Hohenschönhausen“
The World According to Barath
Kenji Kubota, Independent Curator, Tokyo
The present world is filled with anxieties. These feelings of anxiety that we have may vary depending on the country or region in which we live, or on the ethnic group to which we belong. But what we have in common are the facts that what we had believed in no longer reflects the absolute truth, and that we are unable to determine the exact position of where we stand in a much-too-complicated world. Confidence in every ideology and idealistic vision about the progress of civilization has crumbled and amid the highly advanced information-oriented society, the real world has become a flat, homogeneous projection on a screen. As we have lost the sense of reality of our existence, we are at a loss not knowing how to conceive an optimistic vision of the future, or how to confront the emptiness in the real world. Such feelings of insecurity are charged with the potential of extremist (fundamentalist) intolerance and exclusionist violence against other countries, ethnic groups and religions that are now occurring around the world. Read more
Kati Barath is one of the artists that most eloquently articulates such anxieties that pervade the present world. At a glance, her colorful pictures seem pure and innocent, like a scribble by a small child. However, when the viewer stands in front of the huge canvas, he/she will notice the anxiety and violence that lurk behind the surface. A good piece of artwork always carries a multiple range of meanings, leading to a number of different interpretations. Barath’s paintings are indeed no exception, for example, her snowman and animals (rabbits, dogs, monkeys, etc.) are all humorous and full of life. The joy in creating the pictures, just as a child immerses himself/herself in drawing a picture, can be felt. The somewhat clumsy but humorous characters might remind oneself of a close acquaintance, or one might associate them with comics or other sub-cultures. Even as we engage in such thoughts, anxiety and violence creep into our minds. This quality is particularly prominent in a series of her portraits. The boys, the girls or men whose upper bodies are depicted, all convey an empty and lonely feeling. The feeling is as though it were the anxieties and exasperation over what cannot be perceived by a single tangible image, while fragments of consciousness and thought come and go like waves on the seashore. We are able to catch a glimpse of how the darkness of the aforementioned anxieties and violence that people harbor function as a potential and essential factor in the portraits she depicts. Whether consciously or unconsciously, what we see lurking behind the large, bright canvas is today’s crisis of individuals in that respect. The brighter the canvas, the more the darkness hangs over like a haunted spirit.
Barath is by no means merely depicting the crisis of individuals. The material known as ‘caulking’, which is characteristic of her works, wriggles through the flat surface as if to create cracks in the standardized world of reality. By creating such noise on the canvas, Barath is trying to recover the reality, which is fading away. The pictures of a bathing dog, a face of a man in the water, legs of a woman standing in the water, etc., also seem like an attempt to recover the sense of reality by the physical act of making contact with water. She is intuitively aware of the fact that violence in humans is not an inherent quality that human beings are born with, but that it derives from the present state of insecurity. By reconstructing reality from the physical level, through the retina and the sense of touch, she may be attempting to overcome violence with humor as well.
It is the restoring of confidence in everyday life, or in other words, it is an old and yet new theme of rediscovering beauty by taking another look at the familiar faces and things that exist around us. Where Pop Art portrayed the advent of mass-consumer society by making references to images that were widely known, Barath uses anonymous and personal images that are in direct contrast. By doing so, she successfully portrays the effects a mass-consumer society has on us and presents a method to confront the consequences.
The greatest appeal of her paintings is that she perceives through intuition and imagination the real world that cannot be articulated by words (the intellect). Barath is able to convey discreet nuances and tremors of emotion that can only be expressed by her paintings. When there are more people who are able to relate to the multifaceted world of Barath, the world should become a brighter place.
Vorwort
zu „Heike Kati Barath. o.T.“, Ausst.-Kat. Columbus Art Foundation, Leipzig und Magazin4, Bregenzer Kunstverein Texte von Wolfgang Fetz und Jörg van den Berg, Revolver Publishing, Berlin
Dr. Wolfgang Fetz, Magazin4 – Kunstverein Bregenz
Ich kann mich nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang ich den Satz von Michel Leiris gelesen habe. Aus kaum rekonstruierbaren Gründen fiel er mir wieder ein, als ich zum ersten Mal mit Bildern Heike Kati Baraths konfrontiert war – oder, wahrscheinlich präziser, von ihnen „überfallen“ wurde: „Es gibt Skulpturen, die nach dem Piedestal verlangen, andere laden zu obszönen Kritzeleien ein …“. Nun, mit dem „Piedestal“ hätte das (ich weiß nicht aus welchen Tiefen) herbei imaginierte Pandämonium Baraths mit ziemlicher Sicherheit sein Problem. Und obszöne Kritzeleien? Read more
Vielleicht hatte meine Assoziation mit dem erstaunlich ausdifferenzierten Repertoire an Arten&Weisen des „Lächelns“, des Spiels der formbaren „Münder“ zu tun. Ein Spiel, das HKB mit scheinbar größter Leichtigkeit in die Gesichter ihrer kindlichen, jedenfalls vorpubertären Bildbevölkerung zu zaubern imstande ist. Allein damit ließe sich ein eindrucksvoller Bilderatlas produzieren, dachte ich mir. Für jeden, der an Fragen der Physiognomie interessiert ist, ein wahres Fest. Diese Beobachtung lässt sich übrigens auch leicht auf die Weise, wie Barath Augenpartien zum Spektakel macht, ausdehnen. Gut, in Gesichtern von Erwachsenen könnte derartiges Lächeln, derartiges Blickspiel zwischen grausamer Indifferenz, blöder Verschmiertheit und Infantilität obszönen Kommentar provozieren. Aber Hineinponderiert in Kindsgesichter?
Darüber sollte man freilich nicht übersehen, mit welcher malerischen Raffinesse und gleichzeitigen Reduziertheit und Effizienz die Künstlerin dies alles in Szene setzt. Ihre „peinture“ ist raffiniert, um nicht zu sagen „delikat“ (ihr malerisches „tracing“, ihre insistente Frontalität). Über den unmittelbarsten, den augenscheinlich stärksten Effekten dieser Malerei, die eher inhaltlicher, psychologischer Natur sein dürften (und die auch mich aufs erste Ansehen magnetisiert haben), mag man diesen Aspekt zunächst übersehen. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass HKB Malerin in einem eminenten und genuinen Sinn ist. Ich denke, an ihrem Beispiel ließe sich ein veritabler Diskurs über Malerei als Malerei führen (sozusagen als Parallelaktion zu all den sich vordrängenden Psychologismen).
Wie immer, es sind genau die heftigen Ambivalenzen (sie sind das Dogma von HKB), die, mitunter in Schwebe gehalten, in anderen Fällen in drückende Spannungsverhältnisse gesteigert, die Qualität dieser Arbeiten ausmachen. Das Groteske (oder ins Groteske kippende) steht unverfroren neben dem Naiven, das Unverhohlene schillert zwischen Brutalität, Bedrohlichkeit und Sentiment. Die prämoralische Unverdorbenheit, die manches Personal der Bilder ausstrahlt, wird skandiert von einem Leitton, der aus „Der Herr der Fliegen“ stammen könnte. Charaktere jenseits von Gut und Böse vor leeren oder nur gering akzentuierten Landschaften.
Im „Laokoon“ von G.E. Lessing findet sich die Denkfigur des „prägnantesten Augenblicks“. Da die Malerei keine Zeitkunst ist, also sich auch nicht in der Zeit entwickeln kann, kommt sie nicht darum herum, den richtigen, superlativischen Punkt einer Handlung zu fixieren. Und der liegt knapp vor dem eigentlichen Höhepunkt (der Historie). Nicht davor und nicht danach. Die Imaginationskraft braucht genau diesen Spielraum. HKB ist alles andere als eine „Historienmalerin“, aber, intuitiv, kalkuliert, bringt sie ihre Geschichten auf den „Lessingschen-Punkt“. Ihre (physiognomische) Szenographie ist genau zwischen dem: „Was ist vorausgegangen?“ und dem „Was kommt?“ angesiedelt. Jene knappe, jene inkorrekte Sekunde. Durchgangsritus, Halluzination, Abyss und Albtraum zugleich. Zu den Lieblingsbüchern und -filmen von HKB gehören bezeichnender Weise: „Es geschah am helllichten Tag“, „Mein Freund Harvey“, „Brasil“, Wilhelm Hauffs und Grimms Märchen, „Alice im Wunderland“, „Der Fänger im Roggen“.
Flaubert war der Ansicht, dass „das Leben nur unter der Bedingung zu ertragen (ist), dass man nicht daran teilnimmt.“ Wahrscheinlich hatte er damit Recht. Aber wie kommt man schon „aus“, als Lebender? Das ist, wenn ich es recht sehe, die Frage von HKB, die Frage ihrer Malerei. Sie nimmt teil.
Text zu „Heike Kati Barath – o.T.“, Berlin 2009, Revolver Publishing, 128 Seiten, zahlr. Abb., 32 x 23,5 cm, broschiert, ISBN 978-3-86895-011-3
KOMMST DU
Jörg van den Berg, Columbus Art Foundation, 2008
Heike Kati Barath malt übergroße Bilder. 300 cm Höhe können gerade einmal für die Büste eines schwarzhaarigen Mannes reichen. Die Opulenz dieser Übergrößen trifft vielfach auf Sujets von entwaffnender Naivität und Leichtigkeit. Blonde Mädchen, trotzig, stark und verletzlich zugleich, stehen einem ebenso entgegen wie haarlose Grazien, Cousinen, Hirschmann, van Gogh, alter Mann, alte Frau, Asiate, Schwarzafrikaner, Skifahrer, Alienmädchen oder eine unheimliche Schwarze Maske. Die Bildwelten erinnern ebenso Bullerbü wie alltägliche Spießergesellschaft ebenso Horror, Science- Fiction oder Comic. Entsprechend bewegen sich die Farbpaletten der Bilder zwischen himmelblauer Kindlichkeit und schwärzester Abgründigkeit. Die Perfektion und Leichtigkeit der Malerei wird oftmals von den disproportionierten Unzulänglichkeiten der dargestellten Figur konterkariert. So wird der Betrachter zwischen grotesk-bedrohlichen Übertreibungen und der Suggestion einer bis in den Kitsch abdriftenden Kuscheltierästhetik hin und her gerissen. Read more
Barath erzählt Geschichten, ohne erzählerisch zu sein. Ihre Figuren bewegen sich nicht, sie stehen, sie präsentieren sich, sie gehen nicht von der Stelle, prägen sich ein, stellen sich zur Schau, bauen sich auf: „Kommst du?” Es entsteht ein unausweichliches Gegenäber zwischen gemalter Figur und Betrachter, das zügig in eine nur bedingt angenehme Penetranz kippen kann. Penetrieren kann bei diesen Bildern eigentlich alles: ihre entwaffnende Naivität, die Gewöhnlichkeit ihrer Sujets, die Reduktion des innerbildlichen Angebots (zumeist auf eine Figur), die Maßlosigkeit ihrer Dimension, die gesteigerte Unmittelbarkeit ihrer Farben. Vielleicht sind es deshalb viel eher die Übersteigerungen einer Comic-Ästhetik oder noch mehr die cineastischen Bildwelten der übertrieben großen Kinoleinwände, aus denen sich diese Malereien ableiten ließen, an die diese Malereien erinnern können. Prinzessin Mononoke gehört ebenso dazu wie die Mutanten aus X-Men.
Die figurativen Bildwelten von Heike Kati Barath können ins Psychodelische kippen. „Welche Sorte ich?” fragt einmal Winnie the Pooh, der wohl intelligenteste Teddybär, dem man in der Kinderbuchliteratur begegnen kann. Die Frage hilft, wenn man sich dabei ertappen sollte, im Gegenüber der Barathschen Bilder das Ich der Künstlerin erfragen zu wollen. Es sind Bilder, die durchaus nach einem Ich fragen, die aber den Betrachter zu keinem Zeitpunkt mit einer privatistischen Nabelschau konfrontieren. Das „wer bin ich” weitet sich deshalb noch lange nicht zu einem unverbindlichen „wer sind wir”. Eher mag man an einen der wunderbar lapidaren Sätze von Philip Guston – ohne Frage eine der zentralen Referenzen aus der Geschichte der neueren Kunst für Baraths Malerei – denken, der 1980 kurz vor seinem Tod in einem Interview gesagt hat: „I want to be a stranger to myself.”
Das Lächeln und das Grauen treffen in diesen Bildern in ungebremster Direktheit aufeinander, ohne dass man sich entscheiden müsste. Es kann passieren, dass man sein inneres Schmunzeln nicht verliert, obwohl man gleichzeitig die medialen Bilder des gesellschaftlichen Alltagshorrors in aller Nachhaltigkeit erinnert. Nicht nur in dieser Hinsicht sind Baraths Bilder von einer einzigartigen entblößenden Kraft.
TEXT ZUR AUSSTELLUNG DER COLUMBUS ART FOUNDATION IN LEIPZIG 2008